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Filmkritik – Joan Baez – I am a Noise

Ihre Stimme ist tiefer, rauer geworden und hat doch nichts von ihrer Kraft verloren. Joan Baez – eine Ikone der Friedensbewegung und eine Legende des Folk hat sich 2019 mit einer US-Tournee offiziell von der Bühne verabschiedet. Begleitet wurde die inzwischen 82-jährige dabei von einem Filmteam. Für die Dokumentation Joan Baez – I am a Noise öffnete die Sängerin erstmals ihr Archiv für die Öffentlichkeit und stellte sich einem lang verdrängten Trauma.

Joan Baez auf der Bühne mit Bob Dylan. Ein Bild, dass ihre damalige Beziehung mehr als deutlich macht. - Foto: Daniel Kramer/Alamode Film

„Jeder Mensch hat drei Leben: ein öffentliches, ein privates und ein geheimes“. Diesen Satz des Schriftstellers Gabriel García Márquez haben die Filmemacherinnen ihrer Dokumentation Joan Baez – I am a Noise vorangestellt. Ein Zitat, das passender kaum hätte ausgewählt sein können. Denn die rund zwei Stunden erzählen aus allen drei Bereichen, mit einem Fokus auf das, was García Márquez mit dem Geheimnis gemeint hat. So ist I am a Noise auch keine klassische Nachzeichnung eines erfüllten Lebens als Künstlerin, Friedensaktivistin und Bürgerrechtlerin. Vielmehr schaut Joan Baez zum ersten Mal selbst in ihr Archiv und stellt sich Ereignissen in ihrer Kindheit und Jugend, die sie rückblickend nicht nur als ihr Trauma bezeichnet. Die 82-jährige glaubt darin auch Erklärungen gefunden zu haben, für Gefühle der Unzulänglichkeit, des nicht dazu Gehörens und ihrer Beziehungsunfähigkeit.

Die inzwischen 82-jährige Joan schaut schonungslos ehrlich auf unbequeme Wahrheiten zurück. - Foto: Alamode Film

Abschied von der Bühne

Doch bevor sich vor den Zuschauenden unbequeme Wahrheiten aufblättern, sehen sie Joan in ihrem Haus in Kalifornien. Die Sängerin arbeitet mit einem Vocal-Coach an ihrer Stimme. Ihr wichtigstes Instrument, das ebenso gepflegt und trainiert werden will, wie ihr Gitarrenspiel, denn die Finger wollen nicht mehr so schnell die Saiten zupfen. Für die Fitness geht sie aufs Laufband und schwimmt täglich im eigenen Pool. Über ihre Abschiedstournee macht sich Baez keine Illusionen, wenn sie auch ein wenig damit hadert, wie es wohl sein wird, wenn sie nicht mehr im Tourbus von einer Stadt in die nächste reist. Das, so stellt sie nüchtern fest, würde ihr nicht fehlen. Auch die Auftritte vor Publikum gewichtet sie nicht so sehr, dass sie es bedauern müsste. Fehlen, so sagt sie, würde ihr jedoch das Zusammensein mit ihrer Band, zu der auch ihr Sohn Gabriel gehört, der für sie Schlagzeug und Percussion spielt.

Schon mit 18 war Joan ein Folkstar. Innerlich kämpfte sie mit Panikattacken und Unsicherheit. - Foto: Alamode Film

Musik als Ventil

Schon mit 18 war Joan Baez eine Berühmtheit. Mit ihrem glockenklaren Sopran sang sie praktisch alle an die Wand. Nach außen gab sie sich selbstbewusst. Innerlich jedoch kämpfte der Teenager mit Unsicherheit, Panikattacken und Überforderung. Gefühle, die sie bis ins Erwachsenenleben hinein begleiten würden. Singen, sagt Joan, sei für sie immer eine Möglichkeit gewesen, mit ihrer emotionalen Instabilität klar zu kommen.

Joan ebnete Bob Dylan den Weg zur großen Karriere. Er revanchierte sich damit, dass er ihre Beziehung in der Öffentlichkeit leugnete. - Foto: Daniel Kramer/Alamode Film

Bald schon war sie die Stimme ihrer Generation, die einer weiteren Legende dieser Zeit des Aufbruchs den Weg auf die Bühne ebnete: Bob Dylan. Über ihre schwierige Beziehung zueinander schrieb Baez in ihrer 1987 erschienen Autobiografie And a Voice to sing with (deutscher Titel: We shall overcome – Mein Leben). Die beiden waren zunächst ein Paar. Doch je bekannter Dylan wurde, desto mehr entfernte er sich von Baez, die ihn zwar noch auf seiner Tour begleitete, für den aufstrebenden Star am Folkhimmel aber nur noch lästig war. Als er öffentlich leugnete, dass sie ein Paar sind, zog Joan die Konsequenzen und ging von da an ihren eigenen Weg. Bis heute, haben die beiden kein Wort mehr gewechselt. „Er hat mir das Herz gebrochen“, resümiert sie.

Friedensaktivistin und Bürgerrechtlerin. - Foto: Matt Heron/Alamode Film

Friedensaktivistin und Bürgerrechtlerin

Joan stürzte sich in ihr Engagement als Aktivistin. Sie wurde bald zu einer wichtigen Stimme in der Friedensbewegung und als Bürgerrechtlerin. Sie selbst sagt rückblickend, dass sie zeitweise geradezu „süchtig“ danach gewesen sei, sich zu engagieren.

Joan und Ehemann David Haris. - Foto: Bob Fitch Stanfort/Alamode Film

Den scheinbar besten Partner fand sie in David Harris. Der Journalist engagierte sich ebenfalls politisch und wurde dafür zeitweise inhaftiert. Die beiden heirateten und bekamen Sohn Gabriel Earl. Doch auch die Beziehung zu Harris scheiterte. Gleichzeitig nahm Joans Karriere 1975 mit dem Album Diamonds and Rust wieder Fahrt auf. Denn erstmals hatte sie einfach nur Songs aufgenommen, ohne damit eine politische Botschaft verbinden zu wollen. Das kam beim Publikum an. Diese Platte war die erfolgreichste ihrer Karriere. Die erlebte in den 80ern und 90ern einen Knick, bis sich die Sängerin mit jungen Songschreibern zusammentat und 2008 das Album Day after tomorrow und 2018 mit Whistle down the Wind ihr bislang letztes Studioalbum aufnahm.

Innere Dämonen

Der langjährigen Freundschaft zu Regisseurin Karen O’Connor ist es geschuldet, dass Joan sich darauf einließ, ihr offizielles Karriereende von einem Filmteam begleiten zu lassen. Baez erlaubte der Freundin und deren Kolleginnen Miri Navasky und Maeve O‘Boyle den Einblick in ihr Privatarchiv. Sie ahnte nicht, dass damit die geplante Dokumentation eine andere Wendung nehmen würde.

Über ihre gesamte Karriere kämpfte Joan Baez mit ihren inneren Dämonen. - Foto: Alamode Film

In vielen Tonbandaufzeichnungen und Tagebucheinträgen erzählt Joan von ihren Ängsten, Depressionen und ihren „inneren Dämonen“. Sie zitiert aus Briefen, die sie an die Eltern und ihre Schwestern schrieb. Ehrlich gibt sie zu, dass sie süchtig nach Ruhm und Anerkennung war. Aber da ist noch etwas anderes, dunkles und lange verdrängtes, das durch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zutage tritt. Als Teenager hielten die Eltern und Ärzte sie für neurotisch und psychisch gestört. Die erwachsene Joan begab sich irgendwann in Psychotherapie. Dabei traten unbequeme Wahrheiten zutage, die ihre Beziehung zur jüngeren Schwester Mimi und dem Vater in einem neuen Licht erscheinen ließen. In Tonbandmitschnitten sind Joans Eltern zu hören, die sich zu Missbrauchsvorwürfen Mimi und Joan betreffend äußern.

Öffentliche Therapiesitzung

I am a Noise ist eine schonungslose Bilanz eines langen Lebens auf der Bühne und vor allem abseits davon. Sicher nicht das, was ein Publikum erwartet, das eine Dokumentation über eine Ikone wie Baez sehen möchte. Denn ihr künstlerisches Schaffen und ihr politisches Engagement sind lediglich die Bystander für einen ebenso unerwarteten wie überraschenden Einblick in ihr Privatleben.

Mit 82 muss sich Joan Baez nichts mehr beweisen. - Foto: Alamode Film

Joan lies den Filmemacherinnen freie Hand in der Umsetzung dessen, was diese in ihrem beeindruckenden Privatarchiv fanden. Für die 82-jährige war die Zusammenarbeit rückblickend wohl auch ein Teil ihrer Therapie, um ihr Trauma zu verarbeiten. Es bleibt bei aller Offenheit die Frage, ob die Zuschauenden diese tiefen Einblicke wirklich haben müssen, die zweitweise wie eine Sitzung bei ihrem Psychiater wirken. Der ist tatsächlich in Sequenzen zu hören, die er zur Entspannung für die Sängerin aufgenommen hat.

Baez selbst sagt dazu, dass nur sie noch von ihrer Familie lebt. Die Eltern und die beiden Schwestern sind verstorben. Wenn sollte es also stören, dass sie über all das spricht? Wie ihr Sohn Gabriel zu all dem steht, der gemeinsam mit Frau und Tochter auf Joans Anwesen lebt, bleibt offen. Denn er selbst äußert sich in der Öffentlichkeit nicht dazu.

Claudia Hötzendorfer

Joan Baez – I am a Noise

Verleih: Alamode

Start: 28. Dezember 2023

Länge: 113 Min.

Regie: Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O‘Boyle

Sondervorführungen:

In ausgewählten Kinos folgt dem Film zur Deutschland-Premiere die Aufzeichnung eines Publikumsgesprächs im Rahmen der Viennale 2023, das Moderator Neil Young mit Joan Baez führte.

Termine und Vorführzeiten unter www.filmkunstkinos.de