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In einem offenen und sehr bewegenden Buch schreibt Clarissa Vogel über ein Thema, das durch die Corona-Krise noch mehr an Brisanz gewinnt: Kindesmissbrauch

Es passiert fast immer in der Familie oder im engen Freundeskreis. Die Betroffenen schweigen aus Angst, Scham oder weil sie einfach noch zu jung sind, um sich Hilfe suchen zu können. Die angezeigten Straftaten des sexuellen Missbrauchs an Kindern stiegen laut Kriminalstatistik der Bundesregierung zwischen 2019 und 2020 um rund 11 Prozent. Die Dunkelziffer ist jedoch weitaus höher.

Hündin Emma gibt Clarissa Vogel viel Kraft. - Foto: privat

In einem sehr bewegenden Buch hat Clarissa Vogel das aufgeschrieben, was ihr als kleines Mädchen über zehn Jahre hinweg zugestoßen ist. „Ich möchte offen zu meiner Geschichte stehen, damit ich anderen Betroffenen Mut machen kann“, erklärt die Düsseldorferin, warum sie sich dazu entschlossen hat, den Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen. Ihre Geschichte ist eine des Missbrauchs, den sie dort erfahren hat, wo sie sich als Kind hätte sicher fühlen müssen: bei den Großeltern.

In Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen, beschreibt die inzwischen 35-jährige aber auch ihren Weg ins Erwachsenenleben, mit Therapien, Rückschlägen und Menschen an ihrer Seite, die ihr Kraft gegeben haben.

Mit Rhein-Ruhr-Kultur.net sprach sie darüber, warum sie sich für den Schritt in die Öffentlichkeit entschieden hat und wie sehr ihr der Austausch mit ebenfalls Betroffenen geholfen und ihr immer wieder Kraft gegeben hat.

Clarissa Vogel hat sich ganz bewusst dafür entschieden, nun mit einem Buch an die Öffentlichkeit zu gehen. - Foto: privat

Vor der Veröffentlichung Ihres Buches, haben Sie lange Zeit einen anonymen Blog geführt. Was hat Sie dazu bewogen?

„Ich führe seit rund drei Jahren diesen Blog auf Facebook. Weil ich ganz viele Gedanken hatte, die ich nicht aussprechen konnte, aber aufschreiben wollte. Ich hatte damals das Gefühl, das sind Erinnerungen, die ich meinem Umfeld von der Thematik nicht zumuten kann. Deshalb habe ich mich entschlossen, einen anonymen Internetblog zu eröffnen. Sehr schnell habe ich dann aber gemerkt, wie viele Betroffene es gibt. Dieses Gefühl, nicht mehr alleine zu sein, hat mir sehr gutgetan.“

Sie haben diesen Blog Kairies schwarz-weiße Seifenblasen genannt. Was verbinden Sie damit?

„Schwarz-weiß repräsentiert meine Gedankenwelt in einer Zeit, in der es mir wirklich sehr schlecht ging. Ich finde, es beschreibt dieses Auf und Ab zwischen tiefer Traurigkeit, Depression und Fröhlichkeit. Mir haben diese Graustufen, das Neutrale sozusagen, gefehlt. Ich bin von einer Stimmung in die nächste gekommen. Die Seifenblasen stehen für meine Gedanken, die ausufern können und auch mal platzen, die aber immer da sind. Der Namen Kairie hat mir schon immer gefallen und da ich diesen Blog anonym führen wollte, erschien er mir einfach passend.“

Sie haben gerade angedeutet, dass Sie sehr viel Resonanz auf diesen Blog erfahren haben und zwar schon recht bald, nachdem Sie den Blog gestartet haben. Wie sind Sie damit umgegangen? Haben Sie die Erfahrungen der Leser nicht getriggert? Ich könnte mir vorstellen, dass Erlebnisse, die man selbst vielleicht verdrängt hat, dadurch wieder hervortreten.

„Ja, diese Momente gab es. Aber es gab vor allem Momente, in denen ich Lösungswege aufgezeigt bekommen habe. Welche Übungen dabei helfen könnten, dass es einem besser geht und welche Therapien man durchlaufen kann. Ich hatte beispielsweise sehr große Angst vor der stationären Traumatherapie. Weil ich mir ganz schlimme Dinge ausgemalt habe, die dabei passieren, Durch eine Followerin habe ich dann erfahren, wie es dabei wirklich zugeht, wie vorsichtig und hilfreich das alles gestaltet wird. Das hat mich dann tatsächlich bewogen, eine Traumatherapie zu beginnen. Ich habe durch diesen Blog gemerkt, dass wir alle ein vergleichbares Krankheitsbild haben. Man wird von der Gesellschaft, wenn man offen sagt, man hat eine Depression oder posttraumatische Belastungsstörung, erst einmal komisch angeschaut. Denn es ist ein Thema, das leider immer noch tabuisiert wird. Es war einfach schön, dass ich durch diesen Blog so akzeptiert wurde, wie ich bin, weil es den Menschen, die meinem Blog folgen, ähnlich geht.“

Es ist eine Sache, einen anonymen Blog zu betreiben und sich in einem gesicherten Chat untereinander auszutauschen. Eine ganz andere aber ist es, ein Buch herauszubringen, das gewissermaßen ungefiltert in die Welt hinaus geht.

„Ja. Ich habe vor ungefähr einem Jahr beschlossen, nicht mehr anonym zu bleiben. Ich möchte offen zu meiner Geschichte stehen, damit ich anderen Betroffenen Mut machen kann, dass man ganz egal was passiert ist, zu sich stehen kann und auch muss. Schon allein, um darauf aufmerksam zu machen, was in dieser Gesellschaft bis heute hinter verschlossenen Türen passiert. Ich mache diesen Schritt ganz bewusst und ich habe ihn auch mit meinem Arbeitgeber, meinen Klienten und meiner Familie besprochen. Ich bin nicht schuld an dem, was passiert ist und deshalb muss ich mich dafür auch nicht schämen oder verstecken. Das war mein Signal, in die Öffentlichkeit zu treten und mich an ein Buch zu wagen. Einfach um zu zeigen, man kann zu sich selbst stehen und man muss es auch.“

Wie schwer war es an diesem Buch zu arbeiten? Sie mussten dafür alles ja wieder Revue passieren lassen und zumindest einmal ihrer Ghostwriterin Andrea Micus erzählen. Gab es da nicht Momente des Rückschritts in Ihrer Therapie?

„Ja, die gab es. Es war sehr sehr schwierig. Ich war durchgängig in Therapie. Ich wurde durch meine Therapeutin während des gesamten Prozesses intensiv begleitet. Ich habe meiner Ghostwriterin gegenüber das erste Mal Dinge ausgesprochen, die ich noch nie jemandem gesagt habe. Das war extrem herausfordernd für mich. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, was sage ich und welche Situationen möchte ich überhaupt im Buch drin haben. Denn alles wollte und konnte ich nicht beschreiben. Deshalb habe ich mir die Erlebnisse, die ich mitteilen wollte, zunächst aufgeschrieben, bevor ich sie Andrea Micus erzählt habe. Dabei wurden natürlich alte Wunden wieder aufgerissen. Aber es war wichtig, dass diese Wunden aufgehen, weil ich sie dann wieder gemeinsam mit der Therapeutin bearbeiten und neu verpacken konnte. Es ist sehr wichtig, diese schmerzhaften Dinge anzusprechen, damit man sie neu bewerten und einordnen kann. Am Ende habe ich es als Bereicherung empfunden, dass ich all das zum ersten Mal offen ansprechen konnte.“

Das Buch ist noch nicht sehr lange auf dem Markt. Trotzdem würde mich interessieren, wie die Reaktionen darauf sind, soweit Sie dies schon sagen können.

„Positiv. Ich habe vielfach gehört, dass die Leute es gut finden, dass ich mich damit an die Öffentlichkeit gewagt habe. Aber auch, dass ich verschiedene Therapiemöglichkeiten und Übungen aufzeige, die man machen kann. Ich habe die Rückmeldung einer Leserin in Form einer Amazon-Kritik bekommen, die schrieb, dass sie durch das Buch sehr viele Anregungen und Hinweise auf Therapien bekommen hat, was sie als persönliche Bereicherung empfand. Das hat mich sehr gefreut, denn das ist es, was ich mit dem Buch erreichen möchte.“

Wenn ich das so formulieren darf, hatten Sie glelch zweimal das Glück, einen Partner an Ihrer Seite zu haben, der Sie sehr unterstützt hat, was nicht selbstverständlich ist …

„Das stimmt und ich weiß das auch sehr zu schätzen. Ich hatte da wirklich sehr viel Glück.“

Wie wichtig ist es, wenn jemand mit Ihren Erfahrungen beschließt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, dass das Umfeld diese Entscheidung nicht nur akzeptiert, sondern auch mitträgt? Denn im Buch kommen diese Menschen ja auch vor.

„Für mich war es auch während meiner Therapie eine sehr wichtige Ressource, dass ich bei allem was ich tue angenommen und getragen werde. Das betrifft auch meine Stimmungsschwankungen und die Problematiken, die ich auch in meinen Partnerschaften durchlebt habe. Wie Sie schon sagen, es ist nicht selbstverständlich, dass ein Partner das so annehmen kann. Ich habe ja auch eine multiple so genannte dissoziative Persönlichkeitsstörung. Das äußerst sich durch verschiedene Persönlichkeitsstränge, die der Partner in irgendeiner Form auch auffangen muss. Denn gerade orientierungslose Persönlichkeiten benötigen besonderen Schutz. Wenn Sie in solchen Situationen einen Menschen haben, der sich um Sie kümmert, dann kann man da nur sehr dankbar dafür sein. Ich hatte tatsächlich das Glück zwei Partner zu haben, die diesen Weg mit mir gegangen sind. Ganz egal, was passiert ist und wie schlecht es mir gegangen ist, ich hatte immer Menschen an meiner Seite, die mir geholfen haben.“

Wenn ich es in Ihrem Buch richtig verstanden habe, gab es einen Vorfall während Ihrer Arbeit in der Wohnungslosenhilfe, einen Angriff, der zu einem Zusammenbruch führte. Vorher waren Sie schon in Therapie, aber wohl immer mit dem Gedanken, Sie schaffen es Ihren Weg zu gehen. War rückblickend dieses Ereignis der Auslöser dafür zu erkennen, dass da noch ganz viel verschüttet ist, dass es – wenn Sie sich dem nicht stellen – Sie irgendwann völlig aus der Bahn werfen wird?

„In der Zeit, in der ich studiert habe, hatte ich eine Therapie. Danach ging es mir richtig gut. Ich konnte viele Dinge machen, die Menschen ohne dieses Krankheitsbild machen konnten. Das war eine komplett neue Lebensqualität, die ich damit erreicht hatte. Das war rückblickend auch eine Zeit mit einem sehr sorglosen Leben. Ich habe meine Arbeit geliebt und auch das Leben, bis es dann zu diesem Vorfall in der Einrichtung kam, der entscheidend war. Rückblickend war er auch wichtig. Weil er mir verdeutlicht hat, wie viele offene Wunden eigentlich noch in mir sind, die noch gar nicht bearbeitet worden sind. Weil ich damals noch nicht dazu bereit war an Sachen heranzugehen. Einerseits war ich noch zu jung, andererseits haben sie auch noch zu sehr weggetan.

Ich hätte ehrlich gesagt bis zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht, dass es einmal etwas gibt, was mich so sehr aus der Bahn wirft. Ich war sicher, mein Leben läuft so positiv einfach weiter.“

Für die Leser, die Ihr Buch noch nicht kennen, müssen wir erklären, dass es sich bei dem Vorfall schon um einen sehr heftigen Angriff auf Sie gehandelt hat. Der auch Spuren hinterlassen hätte, wenn Sie nicht diese Vorgeschichte gehabt hätten. Das hätte tatsächlich noch viel schlimmer für Sie ausgehen können, wenn nicht jemand dazwischen gegangen wäre.

„Auf jeden Fall. Ich wäre körperlich völlig unterlegen gewesen. Mir war bewusst, dass mir in der Wohnungslosenhilfe Menschen begegnen können, die durchaus Krankheitsbilder haben, gerade psychischer Natur, die sich ganz unterschiedlich manifestieren können. Denn die bringen ihre Vergangenheit auch immer mit in die Beratung. Es kam schon öfter zu Situationen, die nicht so einfach zu lösen waren. Weil das Klientel, das zu uns in die Beratung kommt, oft auch frustriert von der ganzen Situation ist. Da schwanken Toleranz, Stimmung und Temperament schon erheblich. Aber ich habe bis zu diesem Vorfall eigentlich alle Situationen immer gut lösen können, ohne dass es zu brenzligen Momenten gekommen wäre. Man muss sich aber klar sein, dass so etwas immer passieren kann. Die Menschen haben häufig Drogen- und Alkoholprobleme, kommen vielleicht betrunken in die Beratung oder sind psychisch geschädigt. Da können solche Besuche durchaus auch mal eskalieren. Ich hatte einfach Glück, dass die Klienten, mit denen ich zu tun hatte, nie so waren, dass mir etwas Schlimmes wiederfahren wäre und alte Wunden aufgerissen hätte.“

Aber es war schon eine bewusste Entscheidung, mit diesen Menschen zu arbeiten, die vom Leben ordentlich gebeutelt worden sind. Sie hätten sich für die Sozialarbeit ja auch eine andere Wirkungsstätte aussuchen können.     

„Ich wollte immer Sozialpädagogin werden. Mir hat es immer gutgetan, wenn ich anderen Menschen helfen konnte, auch weil es mich von meiner eigenen Problematik abgelenkt hat. Denn ich konnte mich in die Problematik anderer hineinknien und versuchen sie daraus hinauszuführen. So musste ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen. Das hat mir schlussendlich nicht gutgetan. Die Ablenkung durch Arbeit hat dazu geführt, dass ich offene Wunden einfach nicht angegangen bin.“

So genannte Trigger, also Situationen, Gerüche, Worte oder Klänge, die bei Ihnen Ängste auslösen und Wunden wieder aufreißen, können jederzeit passieren. Wie gehen Sie heute damit um?

„Heute kann ich meine Trigger relativ gut einschätzen, auch weil ich viele schon kenne. Ich weiß inzwischen, was ich in solchen Situationen machen kann. Ich habe eine so genannte Skill-Tasche dabei. Darin sind Dinge, die mir durch schwierige Situationen helfen können. Beispielsweise, wenn ein Trigger eine Panik in mir auslöst, dass ich diese dann allein bewältigen kann.“

Können Sie dafür einmal ein Beispiel geben?

„Ich reagiere sehr auf Gerüche. Die können mich sehr triggern, wenn sie mich an etwas erinnern, das in meiner Vergangenheit passiert ist. Dafür habe ich ein Parfüm dabei, das meine Grundschullehrerin früher benutzt hat. Es löst in mir ein sehr sicheres und angenommenes Gefühl aus. Damit kann ich mich schon beruhigen. Eine andere Möglichkeit ist eine Übung, die mir ermöglicht in Gedanken einen sicheren Ort aufzusuchen. Die hilft mir in schwierigen Situationen, weil ich mich an diesem gedanklichen Ort sicher fühle und mir vermittelt, dass ich Herrin über meine Emotionen bin. Selbst wenn eine Panikattacke kommt, weiß ich, das ist ein Gefühl. Ich bin nicht wirklich in Gefahr. Es ist nur ein Gefühl, das aber auch wieder weggeht. Ich habe früher sehr unter Panikattacken gelitten. Heute passiert man das nur noch selten. Ich habe bisher noch jede Panikattacke so durchgestanden, ohne dass die Symptome zu intensiv geworden wären. Sie gingen jedes Mal auch wieder weg, als die Panik nachließ.“

Das Schlimme an Ihrer Geschichte ist, dass Ihnen dieses im vermeintlich geschützten Raum passiert ist, in der Familie. Eine Situation, die gerade durch Corona für viele Betroffene Kinder und Jugendliche noch verschärft wird, die nicht in die Kita oder zu Schule gehen können. Dies belegen inzwischen auch Zahlen der Kriminalitätsstatistik, die von der Bundesregierung gerade veröffentlicht wurde. Haben Sie über Ihren Blog dazu auch schon Rückmeldungen erhalten?

„Die Kinder haben ja kaum Möglichkeiten, sich mit anderen draußen zu treffen und bleiben überwiegend zuhause mit den Eltern, die vielleicht mit der Situation auch überfordert sind. Gerade, wenn ein Kind in schwierigen Familienverhältnissen lebt, ist es häuslicher Gewalt und Übergriffen mehr den je schutzlos ausgeliefert. Zumal kein anderer mehr von außen ein Auge auf dieses Kind haben kann. Gerade, wenn Kindergarten und Schule da ausfallen, ist es umso wichtiger den Fokus in der Öffentlichkeit auf diese Problematik zu richten. Beispielsweise indem man von eigenen Erfahrungen berichtet. Die Mehrzahl der Kindesmisshandlungen findet in der Familie oder durch der Familie nahestehende Personen statt. In den seltensten Fällen ist es ein Fremder, der ein Kind von der Straße wegschnappt. Man weiß, dass die Haupttäter in Familie und Freundeskreis zu finden sind. Deshalb sollte man immer ein Auge auf Kinder haben, bei denen man das Gefühl hat, da ist irgendwas nicht in Ordnung und sich dann auch nicht scheuen, Hilfe zu holen für das Kind. Weil ein Kind alleine keine Hilfe einfordern kann. Für das Kind sind es ja Menschen die ihm nahestehen und die ihm eigentlich Schutz geben sollten. Die ganze Welt eines Kindes dreht sich um diese Menschen und es ist selbst nicht in der Lage, sich Hilfe zu holen. Deshalb ist es so wichtig zu reagieren, wenn man den Verdacht hat, da stimmt etwas nicht.“

Da wir gerade über Familie sprechen. Ich denke, gerade für Ihre Mutter ist es sicher nicht leicht, Ihre Entscheidung ein Buch zu veröffentlichen zu akzeptieren und mitzutragen. Sie musste ja zunächst einmal die Ereignisse an sich verarbeiten und sich nun damit konfrontiert sehen, dass Menschen die sie kennen, nun über diese Geschichte etwas erfahren.

„Für mich selber war es eine schwierige Entscheidung. Bevor ich meine Mutter eingeweiht habe wollte ich sicher sein, ob ich das überhaupt machen und ihr zumuten möchte. Als ich mich dann dazu entschieden und mir ihr darüber gesprochen habe, hat sie sofort gesagt, ‚wenn du glaubst, dass dir das bei der Verarbeitung hilft, dann mache es.‘ Meine Mutter steht voll und ganz hinter mir. Sie ist natürlich sehr schockiert über das, was passiert ist. Darüber hat sie zum ersten Mal im Buch im Detail gelesen. Zwar wusste sie, dass mir etwas passiert ist. Darüber hatte ich mit meinen Eltern ja schon vor Jahren gesprochen. Aber ich beließ es damals bei Andeutungen und bin nicht ins Detail gegangen, weil ich meiner Mutter das nicht zumuten wollte. Als sie das dann zum ersten Mal gelesen hat, war sie natürlich sehr schockiert und hat sich Vorwürfe gemacht. Sie sagt rückblickend betrachtet: ‚Hätte ich es gewusst, ich hätte sofort etwas unternommen. Aber ich habe es nicht gewusst.‘ Es ist leider so, dass Mütter, denen es ähnlich geht, es nicht immer wissen können. Ich war wirklich darauf dressiert, dass man es mir nicht anmerkt. Ich habe ja praktisch zwei Leben geführt. Wenn meine Mutter da war, war ich ein sehr glückliches Kind. Sie hat mich immer umsorgt. Rückblickend habe ich ihr auch nie ein Anzeichen dafür gegeben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie müssen es sich so vorstellen, dass es so war, als würde ich aus zwei verschiedenen Personen bestehen. Der Mensch, der bei meinen Großeltern war und dort Missbrauch und Gewalt erfahren hat und einem total ausgelassenen Kind, das die Zeit mit der Mutter genießt.“

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es Ihrer Mutter damals auch gesundheitlich nicht gut ging, sie Klinikaufenthalte hatte und sich auf Ihren Vater verlassen hat, dass er Sie nicht zu den Großeltern gibt. Mit dieser zusätzlichen Belastung, war es bestimmt noch schwerer für Ihre Mutter, diese Dinge, die Ihnen zugestoßen sind, zu verarbeiten.   

„Sie hat sich wirklich auf meinen Vater verlassen. Meine Mutter hatte ihm verboten, dass er mich zu den Großeltern bringt, weil sie immer ein komisches Gefühl hatte. Sie hat immer gesagt, irgendwas stimmt mit denen nicht und sie wollte nicht, dass ich alleine dort bin. Deshalb hat sie sich auf meinen Vater verlassen, dass er sich an die Absprache hält, wenn sie in der Klinik ist oder arbeitet, dass er mich nicht dort hingibt. Leider hat er sich nicht daran gehalten.“

Zu Ihrem Vater haben Sie nicht zuletzt deshalb ein sehr schwieriges Verhältnis. Zwischenzeitlich hatten Sie keinen Kontakt mehr, dann gab es eine Annäherung. Es scheint, als hätten Sie eine Basis gefunden, miteinander umzugehen?

„Inzwischen sehe ich ihn nicht mehr. Ich habe gemerkt, der Kontakt zu meinem Vater tut mir nicht gut. Ich muss mich ständig verstellen. Er hat auch im Bekanntenkreis etwas gesagt, was mich sehr verletzt hat. Denn er behauptete, ich hätte mir das alles nur ausgedacht. Bei dem Gespräch mit meinen Eltern damals hat er gesagt, er hätte nicht gewusst was passiert ist, aber er hätte nach dem Tod meiner Oma Bildmaterial von mir im Nachlass gefunden. Die Fotos hat er vernichtet. Trotzdem hat er im Freundeskreis behauptet, ich würde mir das alles nur ausdenken. Das hat mir sehr sehr weh getan. Ich habe gemerkt, ich kann einfach nicht normal mit meinem Vater umgehen, denn ich kann ihm nicht verzeihen, dass er das Geschehene immer noch leugnet.“

Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr Buch nicht unter Ihrem richtigen Namen veröffentlicht haben oder?

„Doch, das ist mein richtiger Name.“

Respekt! Das ist sehr mutig. Unter Pseudonym veröffentlichen, wäre bei Ihrer Geschichte durchaus verständlich gewesen. Wenn Sie das Buch unter ihrem richtigen Namen herausbringen, dann macht es die Geschichte für Sie und Ihr Umfeld ja noch weitaus brisanter. Denn so erfahren Menschen davon, die Sie vielleicht als Nachbarin, Kollegin oder ehemalige Mitschülerin kennen.

„Das war mir durchaus bewusst. Was mich sehr gefreut hat, waren Rückmeldungen von ehemaligen Mitschülern. Der Kontakt war mit der Zeit verloren gegangen. Die haben mich angeschrieben und mir gesagt, dass sie nie gedacht hätten, dass mir so etwas passiert ist und wie leid es ihnen tut. ‚Hättest du mal was gesagt.‘ Das Buch hat sehr viele Menschen berührt, die mich kannten und diese positiven Rückmeldungen haben mich in meiner Entscheidung bestärkt. Es tat so gut, endlich zu mir und dem was mir zugestoßen ist, stehen zu können, nichts mehr verheimlichen zu müssen.“

Vielleicht hat sich dadurch einiges in Ihrem Verhalten für das Umfeld erklärt oder? Sie sprachen ja vorhin von den verschiedenen Persönlichkeiten und im Buch beschreiben Sie auch Situationen, in denen Sie wichtige Verabredungen oder Ereignisse, die am Tag zuvor passiert sind, schlicht vergessen hatten.

„Es gab wirklich viele Situationen, die ich erlebt habe, die meinen Freundeskreis mit einem Fragezeichen zurückgelassen haben. Weil sie nicht verstehen konnten, warum ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, dass wir tags zuvor zusammen Eis essen waren. Ich selber konnte mir das ja auch nicht erklären. Ich dachte, das kann nicht wahr sein, dass ich sowas vergesse und ich war zeitweise überzeugt, ich werde verrückt. Ich hoffe, dass ich durch mein Buch Betroffenen Mut machen kann, dass sie sehen, man kann etwas tun, damit es ihnen in Zukunft besser geht. Es ist ein Weg der schwierig ist, der sich am Ende aber lohnen wird. Ich kann jedem nur empfehlen, sich die nötige Unterstützung zu holen. Man muss heutzutage nicht mehr alleine da durch. Es gibt so viele professionelle Menschen, die einem helfen, die Gedanken zu ordnen und Möglichkeiten an die Hand geben, das Erlebte besser zu verarbeiten.“

Das Gespräch führte Claudia Hötzendorfer

Buchtipp:

Clarissa Vogel – „Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen“

(Bastei/Lübbe 2020, 212 S., 10,- Euro)

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